4. Die politische Dimension von Agrarökologie

4.1 Agrarökologie stellt die Bedürfnisse und Interessen von kleinen Lebensmittelerzeuger*innen, die den Großteil der Nahrungsmittel in der Welt liefern, vor die Interessen der Konzerne der Agrar- und Ernährungsindustrie.

4.2 Agrarökologie verfolgt das Ziel, dass Saatgut, Artenvielfalt, Land und Territorien, Wasser, Wissen und andere Ressourcen in der Hand der Menschen bleiben, die Lebensmittel erzeugen, und erreicht damit ein besser integriertes Ressourcenmanagement.

4.3 Agrarökologie kann Machtverhältnisse ändern, indem eine größere Beteiligung von Lebensmittelerzeuger*innen und ‑verbraucher*innen an den Entscheidungsprozessen über Ernährungssysteme ermöglicht wird und neue Governance-Strukturen geschaffen werden.

4.4 Agrarökologie braucht Unterstützung durch politische Rahmenbedingungen, durch Politiker*innen und Institutionen sowie öffentliche Investitionen, um das gesamte Potenzial auszuschöpfen.

4.5 Agrarökologie fördert Formen sozialer Organisation, die Voraussetzung für dezentralisierte Politikgestaltung und lokale Mitgestaltung der Agrar- und Ernährungssysteme sind. Sie schafft darüber hinaus Anreize, sich selbst zu organisieren und in Gruppen und Netzwerken auf verschiedensten Ebenen – ob lokal oder global – kollektiv tätig zu sein (Bauernorganisationen, Verbraucherverbände, Forschungseinrichtungen, Hochschulen usw.).

Auswirkung dieser Dimension

Durch ihre politische Dimension verschiebt Agrarökologie die Machtverhältnisse in Ernährungssystemen, derzeit in den Händen von immer weniger Konzernen der Agrarindustrie mit ihren spezifischen Interessen, hin zu den Direkterzeuger*innen, d. h. den Kleinbetrieben, die den Großteil der Nahrungsmittel in der Welt produzieren. Die Ungerechtigkeiten des bestehenden globalen Ernährungssystems, verursacht durch die Macht von Unternehmen, werden in Frage gestellt und dekonstruiert. Im Rahmen des Ansatzes zur Ernährungssouveränität steht Agrarökologie für einen demokratischen Übergang hin zu Ernährungssystemen, welche Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Nomadenvölker, vom Fischfang lebende und indigene Bevölkerungsgruppen, Verbraucher*innen und andere Gruppen ermächtigen und ihnen eine Stimme geben, um auf kommunaler, sowie nationaler und internationaler Ebene die Politik mitzubestimmen. Diese Gruppen bekommen damit die Möglichkeit, ihr Recht auf Nahrung einzufordern bzw. durchzusetzen.

Judith Hitchman, Urgenci (France/UK) & Pedro Guzman, RENAF (Colombia)

Die politische Dimension von Agrarökologie findet ihren praktischen Niederschlag in der Ernährungssouveränität, die kleine Lebensmittelproduzent*innen in den Mittelpunkt der sie betreffenden politischen Prozesse und Entscheidungen stellt.

Es geht um mehrfache Herausforderungen, von der Sicherung des Zugangs zu Ressourcen (Land, Wasser, Saatgut) über Ernährungssicherheit bis hin zu Klimaresilienz mit nachhaltigen und langfristigen Lösungen, die die agrarökologische Diversifizierung und Ernährungssouveränität befördern. Agrarökologische Bewegungen, die üblicherweise aus Lebensmittelproduzent*innen an der Basis bestehen und im direkten Kontakt mit Verbraucher*innen stehen, setzen sich für eine Verbreitung der Agrarökologie in der Bevölkerung ein (horizontale Expansion). Daneben erfordert die politische Dimension eine vorteilhafte Umgebung im Hinblick auf die öffentliche Politik, in der agrarökologische Lösungen sich verbreiten können (vertikale Expansion).

Beispiel 1: Die Vorteile eines von den Bäuerinnen und Bauern vorangetriebenen Übergangs zur Agrarökologie in den Philippinen

MASIPAG (Magsasaka at Siyentipiko para sa Pag-unlad ng Agrikultura oder Farmer-Scientist Partnership for Development) ist ein Netzwerk von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, NROs und Wissenschaftler*innen in den Philippinen. Zusammengeschlossen haben sich über 35.000 Bäuerinnen und Bauern und diese erhalten Unterstützung beim Übergang zu einer von den Akteur*innen selbst bestimmten nachhaltigen Landwirtschaft und ihren Bemühungen zur Entwicklung eines gesellschaftspolitischen und ökonomischen Umfeldes, welches nachhaltige landwirtschaftliche Familienbetriebe fördert. Die Organisation setzt sich für Agrarökologie ein – und zwar in einem von den Bäuerinnen und Bauern mitgestalteten Kontext, bei dem ihr Wissen und ihre Beteiligung Vorrang haben. Dabei geht es um Reiszucht, die Entwicklung von standortangepassten, von den Akteur*innen selbst bestimmten agrarökologischen Systemen, die Schulung und Miteinbeziehung von Kolleg*innen, die bisher noch nicht mitmachen, durch den gleichberechtigten Austausch von Knowhow und die Entwicklung von Vermarktungssystemen basierend auf dem Prinzip partizipativer Garantiesysteme. Saatgut in den Händen der Bäuerinnen und Bauern – und ihr Wissen um die Zucht und Verbesserung von Sorten – ist ein Weg, die Kontrolle über dieses wichtige Gemeingut zurückzuerlangen und die Antwort der Bäuerinnen und Bauern auf die Zwänge durch geistige Eigentumsrechte an Saatgut sowie die kostenlose, subventionierte Verteilung von Saatgut, welches auf die Zufuhr von Agrochemie angewiesen ist. Die Bäuerinnen und Bauern von MASIPAG haben eine Reihe von Anbaumethoden entwickelt, die sich an verschiedene landwirtschaftliche und klimatische Bedingungen anpassen lassen und nicht unter der Kontrolle irgendeines Unternehmens stehen. Das von ihnen selbst gestaltete Zuchtverfahren hilft sicherzustellen, dass das Saatgut optimal an die lokalen Bedingungen angepasst ist und gute Erträge bringt. Sollte eine Katastrophe eintreten, erhalten die Betroffenen Unterstützung in Form von Saatgut aus nicht betroffenen Gegenden. Um die Verfügbarkeit von Saatgut zu verbessern, verfolgen die meisten Provinzorganisationen die Strategie, Saatgutreserven zu bilden. Die Nutzung von Sorten mit unterschiedlichen Resistenzen und Toleranzen – ein fester Bestandteil der Klimaresistenzstrategie des Netzwerkes – erfordert es von MASIPAG, über 2.000 Reissorten vorrätig zu halten. Aktuell hat MASIPAG 18 Reissorten identifiziert und gezüchtet, die gegen Dürre tolerant sind, zwölf, die Überschwemmungen vertragen, 20, die salzwasserresistent sind, sowie 24, die gegen Schädlinge resistent sind.

2009 wurde eine Studie durchgeführt, in deren Rahmen Befragungen in 280 vollständig agrarökologisch produzierenden Betrieben angestellt wurden sowie in 280 Betrieben, die gerade dabei sind, auf agrarökologischen Anbau umzustellen, und dazu – als Kontrollgruppe – in 280 konventionellen Betrieben. Es ergaben sich überzeugende Belege dafür, dass der Ansatz von MASIPAG die Lebensmittelsicherheit und Ernährung, Gesundheit und finanzielle Situation der Bauernfamilien verbessert hat. Die vollständig agrarökologisch produzierenden Betriebe wiesen eine große biologische Vielfalt auf und erzeugten im Durchschnitt eine um 50 % höhere Ernte als konventionelle Betriebe; die Bodenfruchtbarkeit war besser, es gab weniger Bodenerosion, eine größere Toleranz der Anbaukulturen gegenüber Schädlingen und Krankheiten und bessere betriebswirtschaftliche Kenntnisse. Die Ernährung der Familien war vielfältiger, gesünder und zuverlässiger und die Nettoeinkommen pro Hektar lagen anderthalb mal höher als bei den konventionellen Betrieben. Im Schnitt hatten sie am Jahresende einen positiven Saldo erwirtschaftet und waren weniger stark verschuldet als konventionelle Haushalte, die mit einem Minus abschlossen. Sogar die Betriebe in der Umstellung auf Agrarökologie verzeichneten ein höheres Einkommen und eine bessere Ernährungssicherheit.

Das belegt den Effekt der politischen Dimension, wenn sich die zusammentun, die die Felder bestellen und die Lebensmittel erzeugen, um die Kontrolle über die Ressourcen wiederzuerlangen und dabei alle Akteur*innen sowie Bündnisse zwischen Erzeuger*innen und Forscher*innen miteinbeziehen, mit denen sich die unausgewogenen Machtverhältnisse überwinden lassen. Dadurch entsteht ein positiver Einfluss auch auf andere Dimensionen der Agrarökologie, wie in diesem Fall auf die soziale, kulturelle, ökonomische und ökologische Dimension.

Quellen/weiterführende Informationen

Bachmann, L., Cruzada, B., Wright, S. (2009). Food Security and Farmer Empowerment. A study of impacts of farmer-led sustainable agriculture in the Philippines.

Beispiel 2: Einrichtung nationaler Agrarökologie-Plattformen zur Förderung des politischen Dialogs in Niger, Burkina Faso und Mali

In Burkina Faso, Niger und Mali hat die Zivilgesellschaft seit 2016 mehrere Konsultationen abgehalten, um auf nationaler Ebene einen kollektiven Ansatz zur Agrarökologie anzustoßen. Verschiedene Bauernorganisationen und lokale, nationale oder internationale NROs interessieren sich dafür, Agrarökologie als Praxis, aber auch als soziale Bewegung einzuführen oder zu fördern. Um eine gemeinsame Vision zu entwickeln und den politischen Dialog mit den Regierungen zu verbessern, beschlossen sie die Einrichtung nationaler Plattformen, die eine gemeinsame Vorstellung von Agrarökologie teilen.

Im Rahmen des Programms zugunsten eines Übergangs zur Agrarökologie (PAIES) von CCFD-Terre Solidaire haben sich Partner in drei Ländern (Mali, Burkina Faso und Niger) vorgenommen, solche Plattformen zu schaffen und zu gestalten: die Plateforme national sur l’agroécologie paysanne (nationale Plattform für kleinbäuerliche Agrarökologie – Mali), das Collectif Citoyen pour l’Agroécologie (Volkskollektiv für Agrarökologie – Burkina Faso) und die Plateforme Raya Karkara (Niger).

Was die politische Dimension von Agrarökologie angeht, versuchen die Plattformen, alle Beteiligten (Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Frauengruppen (speziell aus dem Bereich der Lebensmittelverarbeitung), Verbraucher*innen und Forscher*innen) mit ins Boot zu holen, und planen die Einrichtung weiterer lokaler (regionaler) agrarökologischer Plattformen. Es ist ihre Vision und ihr Plan, die Kontrolle über Land, Wasser und Saatgut wiederzuerlangen.

Diese Plattformen bemühen sich gerade aktiv darum, von den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern selbst gemanagte Saatgutsysteme zu fördern, – und sie kämpfen in Burkina Faso überdies gegen den Anbau gentechnisch veränderter Baumwolle. In den drei Ländern wurden die bestehenden gesetzlichen Saatgutsysteme im Rahmen von Studien untersucht bzw. werden gerade Studien dazu durchgeführt. Die Bauernverbände und Forscher*innen werden ermutigt, sich im Hinblick auf Saatgut zu positionieren, das von Bäuerinnen und Bauern selbst gemanagt wird, um eine neue Gesetzesinitiative einzubringen, die solches selbst entwickelte Saatgut berücksichtigt und schützt. In Burkina Faso wurde wegen eines westafrikanischen Bündnisses namens COPAGEN, welches einen Bericht über die Auswirkungen von Gentechnik veröffentlichte, dem nationalen Forschungsinstitut ein Moratorium zur Gentechnik-Forschung vorgeschlagen.

CCFD–Terre Solidaire stellte Ende 2017 eine Übersicht über diese drei Organisationen fertig, die ihre Ursprünge, aktuellen Aktivitäten und künftigen Initiativen vorstellt. Es dauerte eine Weile, bis es ihnen gelang, eine gemeinsame Vision von Agrarökologie zu definieren. Mali ging noch einen Schritt weiter und konzentrierte sich auf kleinbäuerliche Agrarökologie. Zu den wichtigsten politischen Forderungen der Plattformen gehört es, dass Agrarökologie Teil der nationalen Landwirtschaftspolitik wird und in den damit verbundenen Umsetzungsprogrammen berücksichtigt wird. Manche haben bereits mit der entsprechenden Lobbyarbeit begonnen, wie etwa der Einführung eines Masterstudiengangs in Agrarökologie in Niger und einem Multi-Stakeholder-Dialog in Mali zwecks Überprüfung des Erreichten.

Quellen/weiterführende Informationen

Mali :

–  Mehr über die nationale Plattform und ihr Manifest zur Agrarökologie (in französischer Sprache)

– Die Studie über das Saatgutsystem in Mali (in französischer Sprache):« Semences, normes et paysans: état des lieux du cadre normatif et institutionnel du système semencier et de la place des semences paysannes et des droits des agriculteurs au Mali »

Burkina Faso:

–  Studie zu gentechnisch veränderter Bt-Baumwolle und Kleinbäuerinnen und Kleinbauern (in französischer Sprache): « Le coton BT et nous: la vérité de nos champs – synthèse d’une recherche paysanne sur les impacts socio-économiques du coton Bt au Burkina Faso »

Überprüfung der agrarökologischen Plattformen:

– In französischer Sprache: “Capitalisation du processus de structuration des plateformes agroecologiques au Mali, Niger et au Burkina Faso“